Zwischen 15 und 35 habe ich viel gelesen und viel darüber gelernt, was gute Literatur ist.
Bei der Durchsicht des Bücherregals wird mir heute bewusst, wie einseitig dieses Lesen und dieses Lernen war. Die Perspektive arrivierter Männer bestimmte, was Kunst, was eine theoretische Einsicht, was lesenswert und diskussionswürdig war.
War mir linguistisch seit dem Studium völlig klar, dass Sprachnormen oft eine Perspektive abbilden, die geprägt ist von Machtverhältnissen – so war mir bis vor ein paar Jahren die Erkenntnis nicht zugänglich, dass das in der Literatur genauso ist.
Für ein mittlerweile abgebrochenes Dissertationsprojekt habe ich mich mit den Texten von Sebald auseinandergesetzt. Sebald entwirft Netze von Referenzen – meist zu weißen Männern. Er schreibt über Außenseiter, über Menschen, die einsam sind, am Leben leiden – sich damit aber denkerisch und künstlerisch auseinandersetzen, wie er es tut. Aber weshalb fehlen da die Perspektiven von anderen Menschen? Weshalb kann ein so sensibler Autor nicht wahrnehmen, wie eng seine Weltsicht ist? …
Dieser Text ist die argumentative Rahmung dieses Tweets, den ich auf Twitter bereits ausgiebig diskutiert habe.
Vorausschicken möchte ich: Ich konsumiere durchaus professionellen Sport, wenn auch oft mit einem schlechten Gewissen. Mich faszinieren viele Sportarten, ich weiß, wie viele Gefühle damit verbunden sein können, den besten Sportler*innen in Wettkämpfen zuzuschauen. Ich rufe nicht zu einem Verbot auf.
Ich spreche von professionellem Sport, wenn Sport ein bezahlter Beruf ist. Breitensport meine ich nicht – er tut vielen Menschen gut und kann deshalb durchaus als staatliches Angebot gesehen werden. …
In den letzten Tagen habe ich drei Diskussionen geführt, in denen es um Maßnahmen rund um die Eindämmung der Covid-Pandemie ging. Ihnen ist eines gemeinsam: Für mich stand immer die Frage im Mittelpunkt, wie über die Eindämmung der Infektionen gesprochen wird.
Vorauszuschicken ist: Ich halte die Pandemie für gefährlich und befürworte strenge Maßnahmen, um die Ausbreitung zu verlangsamen und Ansteckungen zu verhindern. Oft wird das aber in Zweifel gezogen, sobald ich Skepsis in Bezug auf bestimmte Darstellungen äußere.
Mein Eindruck ist, dass Menschen, welche die aktuellen Maßnahmen für unzureichend halten, es als problematisch empfinden, wenn die Forderungen nach strengeren Vorschriften kritisch kommentiert werden – auch wenn es nicht um die damit verbunden Argumente geht, sondern darum, wie sie formuliert werden. …
Der folgende Text ist die ausführliche Version von diesem Tweet:
Der Begriff ist sehr neu, aufgekommen ist er vor 2017. Hier ein Tweet aus einer schwarzen US-Twitter-Community, wo »Cancel Culture« 2017 verwendet wurde:
Was wird damit gemeint? Lisa Nakamura, eine Professorin für digitale Medien, definiert »to cancel« wie folgt:
It’s an agreement not to amplify, signal boost, give money to. People talk about the attention economy — when you deprive someone of your attention, you’re depriving them of a livelihood.
Jemanden »canceln« bedeutet mehr als einzelne Event zu »canceln«, also abzusagen. »Cancel Culture« ist auf Personen bezogen, denen Aufmerksamkeit und Reichweite (die sie einst hatten), durch einen kollektiven Effort verweigert oder entzogen wird. Das wirkt sich dann auch auf ihre Karriere oder ihr Einkommen aus. …
Dieser Beitrag dient dazu, eine deutsche Definition des Effekts zu formulieren und die Herkunft des Begriffs zu dokumentieren.
Definition
Der Gell-Mann-Amnesia-Effekt bezieht sich auf die Medienrezeption: Wer sich in einem Fachgebiet gut auskennt, empfindet die Berichterstattung darüber meist als verzerrt, fehlerhaft und verständnislos. Sobald die Person aber mediale Beiträge zu anderen Themen wahrnimmt, verschwindet dieser Eindruck: Das Vertrauen in die journalistische Arbeit ist wieder hergestellt (deshalb »Amnesia«).
Herkunft
Den Effekt hat der Schriftsteller Michael Crichton in einer Rede von 2002 zum ersten Mal beschrieben. Er bezieht sich dabei auf seinen Freund und Physiker Murray Gell-Mann.
Briefly stated, the Gell-Mann Amnesia effect is as follows. You open the newspaper to an article on some subject you know well.
In Murray's case, physics. In mine, show business. You read the article and see the journalist has absolutely no understanding of either the facts or the issues. Often, the article is so wrong it actually presents the story backward — reversing cause and effect. I call these the "wet streets cause rain" stories. Paper's full of them.
In any case, you read with exasperation or amusement the multiple errors in a story, and then turn the page to national or international affairs, and read as if the rest of the newspaper was somehow more accurate about Palestine than the baloney you just read. You turn the page, and forget what you know. …
»Seuche Moralismus – Wie Überkorrektheit die Gesellschaft vergiftet« lautet der Titel eines Juni-Dossiers der Zeitschrift »Schweizer Monat«. Lese ich das, dann lassen mich schon die Metaphern der Krankheit und des Gifts vermuten, dass »Moralismus« ein Begriff ist, der nicht weit trägt – ein Begriff, der nach Uwe Pörksen ein Plastikwort ist:
Ungezählte Eindrücke werden auf einen Begriff gebracht, an einen Namen geheftet, und dieser Name gewinnt eine gewisse Selbständigkeit. Man vergisst, dass er nur eine begrenzte Sicht beinhaltet und verwechselt ihn mit der Sache. (S. 20)
Wörter, so Pörksen weiter, seien »Kristallisationspunkte des Zeitbewußtseins«. »Moralismus« passt in diese Kategorie, so meine Hypothese. …
Während der verschiedenen Maßnahmen zur Reduktion der Covid-19-Infektionen war immer wieder die Rede vom Präventionsparadox. Erwähnt wurde hat es etwa Christian Drosten im viel zitierten Guardian-Interview und der Soziologe Armin Nassehi in einem Deutschlandfunk-Interview.
Was ich im Folgenden kurz zeigen möchte: Drosten und Nassehi beziehen sich auf ein mögliches Verständnis der Paradoxie. Daneben gibt es zwei weitere Definitionen.
Die Aussage von Nassehi zeigt das eine Verständnis deutlich, Drosten übernimmt diese Definition ziemlich genau:
Es mehren sich ja schon die Stimmen, die sagen, na ja, wir haben doch festgestellt, dass die Kliniken nicht überlastet sind, vielleicht hätte es dieses Shutdowns gar nicht bedurft — was sicherlich nicht der Fall ist. Wir Soziologen nennen das das Präventionsparadox: Also man sieht die Schäden nicht, die ausgeblieben sind. Und womöglich steht uns das noch mal bevor. …
Heute habe ich auf Twitter kurz thesenartig kommentiert, was man von der Klimabewegung über die Zukunft des Journalismus lernen kann. Die Reaktionen auf meinen Thread haben mir gezeigt, dass ich meine Argumente ausformulieren sollte. (Mir ist durchaus bewusst, dass ich im Journalismus als Outsider gelte. Ich bin ein kritischer Beobachter und Mitdenker, kein Journalist.)
Journalismus wird klassisch von Redaktionen und Brands aus gedacht: Eine Redaktion etabliert Prozesse, mit denen journalistische Formate produziert werden. Diese Formate werden unter einer Brand an ein Publikum ausgespielt – diese Brand garantiert Qualität (und auch eine bestimmte politische Ausrichtung, einen Themenmix etc.). …
Die menschliche Psyche ist ein wunderbar und rätselhaft. Und zuweilen auch echt anstrengend. Nehmen wir das Impostor-Syndrom. Das untenstehende Diagramm von Joshi und Mangette (2018) beschreibt, wie es funktioniert: Menschen haben den Eindruck, andere zu betrügen, indem sie nur so tun, als wären sie kompetent, obwohl sie es in Wahrheit gar nicht sind. Als Resultat fokussieren sie ihre Anstrengungen auf Aufgaben, die mit Prestige verbunden sind. Die damit zusammenhängenden Erfolgsgefühle und positive Rückmeldungen werten sie jedoch ab: Sie erklären sie mit ihrer besonderer Anstrengung oder Glück. …
Update 5. April: Oliver Fuchs hat auf den Text reagiert, vgl. unten.
An der ETH soll eine Astronomie-Professorin ihre Doktoranden über Jahre gemobbt haben. Jetzt wird sie entlassen, obwohl die Schuldfrage nie geklärt wurde. Wie eine Institution von Weltruf alles verrät: die Professorin, die Unschuldsvermutung, sich selbst.
Das ist der Lead zur ersten Folge der ETH-Story der Republik. Sie umfasste insgesamt drei Folgen, zwei Interviews, eine Reaktion auf die Stellungnahme der ETH sowie eine englische Übersetzung.
Ich habe die Geschichte verfolgt und immer wieder kommentiert. Geblieben ist ein Unbehagen, das ich hier kurz ausdrücken möchte.
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