Was »strukturell« oder »systemisch« mit Wahrscheinlichkeiten zu tun haben

Philippe Wampfler
2 min readMar 22, 2022

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Kürzlich hat ein Journalist eine Umfrage gemacht, auf die 5000 Menschen geantwortet haben. Sie haben ihm mitgeteilt, wovor sie im Sportunterricht Angst hatten, z.B.

Ein Sportlehrer sagte öfter, dass viele aus unserer Klasse zu „fett“ seien. Er empfahl, dass wir im Bus Klimmzüge machen und jede freie Minute nutzen sollten, um Gewicht zu verlieren.

Grundsätzlich kann man eine solche Aussage auf zwei Arten einordnen:

  1. Das ist ein unprofessioneller Sportlehrer (gewesen), der die Würde seiner Schüler*innen nicht geachtet hat.
  2. Das ist Ausdruck eines Problems des Sportunterrichts, der teilweise Personen anzieht, welche die Würde von Schüler*innen nicht achten.

Die erste Sicht kann man personal nennen: Sie geht davon aus, dass Menschen Probleme verursachen, die dann so gesehen Einzelfälle sind.

Die zweite ist eine strukturelle oder systemische. Wer nur den eigenen Sportunterricht erlebt hat, kann nicht abschätzen, ob diese Einordnung stimmt. Wir können Strukturen und Systeme nicht wahrnehmen. Warum nicht?

Was mit »strukturell« oder »systemisch« bezeichnet wird, sind erstens komplexe Abhängigkeiten: Wer Sport unterrichtet, orientiert sich an eigenen Schul- und Lebenserfahrungen, an einer Ausbildung, an Lehrplänen und an Unterrichtspraktiken und -normen an bestimmten Schulen. So wäre es denkbar, dass das strukturelle Problem existiert, aber an vielen Schulen nicht. Es könnte aber auch sein, dass es nicht existiert, aber aufgrund bestimmter Lehrplanvorgaben so wahrgenommen wird.

Das zeigt, dass diese komplexen Abhängigkeiten zweitens Wahrscheinlichkeiten beeinflussen: Strukturell es etwas, wenn bestimmte Handlungen deutlich wahrscheinlicher (oder weniger wahrscheinlich werden). Wenn also im Sportunterricht deutlich häufiger Geringschätzungen von Schüler*innen (oder gar Übergriffe) stattfänden als in anderen Fächern, dann gäbe es ein strukturelles Problem.

Menschen können Wahrscheinlichkeiten nicht wahrnehmen. Wir nehmen alle Probleme zunächst personal wahr, als Einzelfälle. Ein Verständnis dafür, was strukturell ist, erfordert einen statistischen Blick, eine Ausdehnung der Wahrnehmung auf viele Fälle.

Das kann man gut an struktureller Diskriminierung zeigen, also Formen von systemischem Rassismus, Sexismus, Ageismus, Ableismus etc. Wenn etwa bei Bewerbungsverfahren Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihres Alters oder aufgrund von Beeinträchtigungen benachteiligt werden, dann wirkt das zunächst einfach als Ablehnung einer Person. Das ist ein regulärer Vorgang und keine Diskriminierung: Von mehreren Bewerber*innen muss halt eine Person ausgewählt werden. Würde man aber sehen, dass Menschen aus bestimmten Gruppen deutlich seltener gewählt würden, dann würde sich das auf Wahrscheinlichkeiten auswirken: Menschen mit der richtigen Herkunft, dem richtigen Geschlecht etc. hätten es leichter, hätten bessere Chancen.

Über strukturelle Probleme nachzudenken ist deshalb schwierig, weil es von Menschen erfordert, die eigene Erfahrung zurückzustellen. Wir erleben keine Strukturen, Wahrscheinlichkeiten sind nichts, was wir wahrnehmen können. Aber wir können mit dieser Sicht viele Probleme besser verstehen, indem wir uns überlegen, wie wahrscheinlich eine bestimmte Handlung in einer bestimmten Situation ist – und wie diese Wahrscheinlichkeit beeinflusst werden könnte.

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