Was »Cancel Culture« wäre, wenn es sie gäbe…

Philippe Wampfler
3 min readAug 9, 2020

Der folgende Text ist die ausführliche Version von diesem Tweet:

Definition von »Cancel Culture«

Der Begriff ist sehr neu, aufgekommen ist er vor 2017. Hier ein Tweet aus einer schwarzen US-Twitter-Community, wo »Cancel Culture« 2017 verwendet wurde:

Was wird damit gemeint? Lisa Nakamura, eine Professorin für digitale Medien, definiert »to cancel« wie folgt:

It’s an agreement not to amplify, signal boost, give money to. People talk about the attention economy — when you deprive someone of your attention, you’re depriving them of a livelihood.

Jemanden »canceln« bedeutet mehr als einzelne Event zu »canceln«, also abzusagen. »Cancel Culture« ist auf Personen bezogen, denen Aufmerksamkeit und Reichweite (die sie einst hatten), durch einen kollektiven Effort verweigert oder entzogen wird. Das wirkt sich dann auch auf ihre Karriere oder ihr Einkommen aus. Wird jemand »gecanceled«, dann hat das Folgen, die gravierender sind als der Verlust von Aufmerksamkeit.

Der zweite Wortbestandteil meint, dass das zu einer verbreiteten Praxis geworden sei, zu einem Problem: Jemanden zu »canceln« wäre dann eine Kultur, wenn es sich um eine verbreitete Reaktion auf die Handlungen von Personen handeln würde, wenn das immer wieder und an verschiedenen Orten passieren würde.

Implizit meint »Cancel Culture« auch, dass es um Meinungsfragen geht. Wer ein Verbrechen begeht oder gegen die Interessen eines Unternehmens handelt, wird nicht im Sinne der »Cancel Culture« gecanceled, sondern verurteilt oder entlassen. »Cancel Culture« meint eine Form von unverdienter Sanktion, die nur deshalb erfolgt, weil jemand eine Meinung vertritt, die anderen nicht gefällt.

Weshalb es keine »Cancel Culture« gibt

Wenn diese Definition von »Cancel Culture« richtig wäre, dann gäbe es sie, wenn es regelmäßig Fälle gebe, bei denen Menschen Reichweite und Aufmerksamkeit durch Kollektive entzogen würde, worunter sie massiv leiden.

»Cancel Culture« gibt es nun schlicht deshalb nicht, weil es diese Fälle nicht gibt. Im deutschsprachigen Raum gibt es einige Anlässe, die immer wieder genannt werden – nicht aber Personen. In den USA gibt es einige Personen, die aber weiterhin große Plattformen bespielen und nicht darunter leiden, »gecanceled« worden zu sein.
Die meisten Personen, die ihrer Ansicht nach »gecanceled« wurden, können das auf großen Plattformen verkünden – ein performativer Widerspruch.

Was es gibt:

  • Aufrufe, Menschen die Aufmerksamkeit zu entziehen und ihnen persönlich, beruflich etc. zu schaden.
  • Kritik an den Aussagen von Personen, auch von Kollektiven.
  • Anlässe, die abgesagt werden; Aufträge, die Menschen entzogen werden etc.
  • Protest gegen Anlässe und Auftritte von Menschen, auch gewaltsamen.
  • Entlassungen von Menschen, die eine Meinung vertreten, die dem Ansehen eines Unternehmens schaden könnte.

Weshalb über »Cancel Culture« geredet wird

Die Rede von »Cancel Culture« ist eine Form, um Kritik abzuwehren oder zu verunmöglichen. Obwohl eigentlich alle Menschen wissen, dass es keine Kultur gibt, in der Menschen schaden erleiden, weil Kollektive ihre Meinung nicht mögen, verbreitet sich der Begriff dennoch. Der Grund dafür ist der Wunsch, Meinungen äußern zu können, ohne dafür Verantwortung übernehmen zu müssen. Verantwortung meint, auf Kritik antworten zu müssen, negative Reaktionen von andere Menschen wahrzunehmen und damit umzugehen. Können sie als »Cancel Culture« abgetan werden, ist das ein ähnlicher Effekt wie beim Begriff »Political Correctness«: Statt sich anständig zu verhalten, wird Anstand als eine Form übertriebener Korrektheit dargestellt – und wer für anständiges Verhalten eintritt, für ideologisch verblendet erklärt. »Cancel Culture« markiert Kritik als unfair und schädlich.

Matthew Henry

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Philippe Wampfler

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