Warum Berufslehren in der Schweiz idealisiert werden
Die Schweiz hat auf der Sekundarstufe II ein duales Bildungssytem: Jugendliche besuchen entweder einen gymnasialen Lehrgang (ergänzt durch Fach- und Handelsmittelschule mit mehr praktischen Anteilen) oder einen berufsbildenden – eine Berufslehre.
Dieser NZZ-Titel (wahrscheinlich Paywall) steht für eine Argumentation, die gleichzeitig stimmt und problematisch ist. Was stimmt: Die beruflichen Chancen von Menschen, die eine Berufslehre absolvieren, sind gut – das zeigt etwa diese aktuelle Studie. Zudem ist die Ausbildungsqualität der Berufslehren gut. Wählen Jugendliche eine für sie passende Lehre, werden sie meist umfassend auf ihre berufliche Zukunft vorbereitet.
Das wird in der Schweizer Bildungspolitik immer wieder betont. Das hat einen Grund – die blinden Flecken des dualen Bildungssystems sollen ausgeblendet werden.
Der erste ist die tiefe Gymnasialquote. Kantone beschränken den Anteil der Gymnasiast*innen auf teilweise unter 20% – aus ausschließlich ökonomischen Überlegungen. Jugendliche werden gezwungen, eine Berufslehre zu absolvieren, auch wenn sie einen gymnasialen Lehrgang belegen möchten. Das ist ungerecht und problematisch. Durch die Lobgesänge auf die Qualität der Lehren soll Eltern und Jugendlichen suggeriert werden, diese Ungerechtigkeit sei irgendwie sinnvoll – ist sie aber nicht. Die Beschränkung der Gymnasialquote wird damit verkauft – was unehrlich ist. Wenn Berufslehren gute Chancen bieten, werden sie von Jugendlichen aus Ausbildungsgang gewählt.
Der zweite Grund sind Berufslehren, die keine gute Ausgangslage für lebenslanges Lernen darstellen. Jugendliche müssen oft früh viel arbeiten – in Kontexten, in denen Bildung keinen hohen Stellenwert hat. Die Schultage dieser Lehrenden sind Belastungen für Betriebe, wo dann andere die Arbeit erledigen müssen. Im NZZ-Artikel steht am Schluss:
[S]owohl der Weg über eine berufliche Grundbildung wie auch jener über einen allgemeinbildenden Abschluss [ermöglicht] einen hohen Medianlohn: «Entscheidend ist allerdings, ob eine Person nach einem Abschluss auf der Sekundarstufe II noch eine tertiäre Ausbildung absolviert.» Was für das Gymnasium gilt, gilt auch für die Berufslehre: Der Abschluss ist mit Vorteil nicht das Ende der Ausbildung, sondern «nur» das Ende des Anfangs.
Das gilt für bestimmte Lehren nicht, dass sie das Ende des Anfangs markieren. Auch das zeigt sich in einem statistischen Blick nur teilweise oder verschwommen. Die folgende Abbildung belegt etwa, dass der Anteil der Vorgesetzten ohne gymnasialen Abschluss in 20 Jahren um rund 10 Prozentpunkte gesunken ist. Das mag nicht alle Branchen gleichermaßen betreffen – bedeutet letztlich, dass es mit einer Berufslehre deutlich schwerer geworden ist, eine leitende Stelle einzunehmen.
Wir müssen – wie überall – differenziert über die Berufslehre sprechen. Das System ist hervorragend – für Jugendliche, die einen für sie passenden Weg wählen können. Wer aber gezwungen wird, eine bestimmte Lehre zu absolvieren, profitiert nicht vom System. Auch das muss klar gesagt werden.