Warum Abstimmungen keine demokratischen Entscheide ermöglichen
»Stimmen wir doch einfach ab!« Mit diesem Vorschlag versuchen Schüler*innen meiner Klassen oft, Debatten abzukürzen und zu einer Entscheidung zu kommen. Sie haben gelernt, dass Abstimmungen faire Verfahren sind, die allen eine Mitsprachemöglichkeit geben und Resultate ermöglichen, die von allen akzeptiert werden (müssen).
Als Lehrer versuche in seit einigen Jahren, solchen Abstimmungen aus dem Weg zu gehen. Mehr noch: Ich bin überzeugt davon, dass Abstimmungen undemokratisch sind. Das mag erstaunen, weil in politischen Prozessen Abstimmungen als Kern demokratischer Verfahren verstanden werden.
Mein Argument funktioniert so: Demokratisch sind Verfahren, welche bei Entscheidungen die Bedürfnisse aller Betroffenen angemessen berücksichtigen und alle Betroffenen an der Entscheidungsfindung beteiligen. Mit dieser Definition können wir prüfen, ob Abstimmungen diese erfüllen.
Nehmen wir an, eine Gruppe verabredet sich zu einem Nachtessen. Sie müssen sich für ein Restaurant entscheiden. Einige Personen haben Präferenzen, weil die Atmosphäre oder das Essen am einen oder anderen Ort besser mögen, andere konkrete Bedürfnisse: zum Beispiel eine Unverträglichkeit, Zugänglichkeit für einen Rollstuhl oder schlechte Arbeitserfahrungen in einem Restaurant, die einen Besuch verunmöglichen.
Würde die Gruppe nun einfach unter den Vorschlägen abstimmen, wären die Präferenzen und die wichtigen Bedürfnisse gleich gewichtet. Personen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, könnten nicht zum Treffen kommen, solche mit Unverträglichkeit kaum was essen etc. Ein vernünftiges Vorgehen wäre ein Gespräch, in dem man alle Bedürfnisse hören kann und gemeinsam überlegen kann, wie ein Kompromiss gefunden werden kann. Kriterium für einen guten Kompromiss: Alle sind unter Berücksichtigung der Situation damit einverstanden.
Das Beispiel zeigt, dass ein demokratisches Verfahren zwei Komponenten enthält:
- Informationen über die Bedeutung der Entscheidung für alle Betroffenen werden von allen Beteiligten wahrgenommen.
- Findung einer Entscheidung, welche den wichtigen Bedürfnissen mehr Gewicht gibt als den weniger wichtigen – und mit der alle leben können.
Abstimmungen verhindern nun sowohl 1. als auch 2.: Selbst in Parlamenten verstehen Abstimmende oft nicht, was ihre Entscheidung für Betroffene genau bedeutet. Das »one man one vote«-Prinzip geht von der Annahme aus, alle Interessen oder Bedürfnisse hätten das gleiche Gewicht, was offensichtlich falsch ist.
Demokratisch ist das, was Freund*innen, Familien, gute Arbeitsteams machen: Miteinander reden, bis alle verstehen, worum es geht und mit dem beschlossenen Vorgehen einverstanden sind. Das Konsens-Prinzip ist das grundsätzlich demokratische Verfahren – wobei »nicht einverstanden« bedeutet, dass ganz wesentliche eigene Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden, wenn man das so machen würde.
Wie kann es sein, dass viele Menschen den Eindruck haben, Abstimmungen seien demokratischer als solche Gespräche? Das hat einen technokratischen Grund: Gespräche skalieren nicht. Sobald 20 Personen über einen Restaurant-Besuch verhandeln, müssen sie enorm viel Zeit damit verbinden, einander anzuhören und auszuhandeln, welche Lösung für alle stimmt. Eine Abstimmung ist dann eine Abkürzung. Zudem kann es sein, dass elementare Bedürfnisse sich gar nicht alle befriedigen lassen: Eine große Gruppe findet möglicherweise kein Restaurant, in dem sich alle wohl fühlen. Dann stellt sich die Frage, wer ignoriert wird. Da sowas oft nicht in einer gerechten Weise gelöst werden kann, ersetzt das quantitative Verfahren der Abstimmung diese Erwägung.
Was bedeuten diese Überlegungen? Erstens, dass demokratische Entscheide oft nur in überschaubaren Kontexten möglich sind. Zweitens, dass gerade in solchen Kontexten (wie in Schulklassen) Abstimmungen nur dann eingesetzt werden sollten, wenn die Entscheidung für jede Person dasselbe Gewicht hat.