Verschwörungstheoretisches Denken: Die Angst vor einer Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit an Universitäten

Philippe Wampfler
5 min readMar 23, 2019

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Der Begriff der Verschwörungstheorie erfordert umsichtige Verwendung: Die Abwehrreflexe gegen den Begriff, der sehr unterschiedlich verwendet wird, sind gut eingeübt. Deshalb definiere ich kurz, was ich mit »verschwörungstheoretischem Denken« meine, bevor ich darlege, wo in welchem Kontext diese Denkverzerrung im Moment stark beobachte.

Die Funktion von Verschwörungstheorien – so verstehe ich Butter – ist es, politische Komplexität zu reduzieren. Eine Reihe einfacher Annahmen wird dabei so entwickelt, dass jede konkrete Beobachtung diese Annahmen bestätigt. Die Gefahr dieses Denkens liegt also darin, dass es gar keine Korrektive mehr gibt: Es fehlt an Möglichkeiten, die Annahmen zu falsifizieren.

Ausgehend von dieser Definition geht es im Folgenden um konkrete Annahmen:

  1. Die Meinungsäußerungsfreiheit an Universitäten werde immer mehr eingeschränkt.
  2. Das habe damit zu tun, dass in den Sozial- und Geisteswissenschaften politischer Aktivismus an die Stelle von Wissenschaft getreten sei.
  3. Der Raum für echte wissenschaftliche Auseinandersetzung, faktenbasierte Argumente und rationale Kritik werde dadurch immer kleiner.
  4. Personen, die für die wissenschaftliche Methode eintreten, würden diffamiert, in eine rechte Ecke gestellt und mit unlauteren Mitteln aus dem Betrieb ausgeschlossen.

Wer diese Annahmen vertritt, wurde mit ihnen meist über einen englischsprachigen Diskurs vertraut gemacht, der sich auf Anekdoten und Skandale aus dem angelsächsischen Wissenschaftsbetrieb bezieht. Einzelne Figuren stehen dabei für die Richtigkeit dieser Annahmen, eine Fülle von Material scheint zu bestätigen, dass die Sichtweise richtig ist.

Zudem treten Fachleute mit großem wissenschaftlichen Renommee auf den Plan – wie etwa Ferguson oder Haidt – welche einen Frame für dieses Denken anbieten: Sie präsentieren sich als ideologielose Forscher, die mit zunehmender Besorgnis beobachten, dass sich die Bedingungen für echte Forschung verschlechtern, während ideologiegetriebener Aktivismus Überhand nehme und echte Erkenntnis verhindere.

Alternative Deutungsangebote geraten aus dem Blick: Es wird ausgeblendet, dass viele Skandale auf bewusste Provokationen zurückgehen, mit denen die angeblichen Präzedenzfälle überhaupt erst geschaffen wurden. Damit entsteht ein blinder Fleck: Die Annahmen sind verbunden mit der Vorstellung, es gebe eine ideologiefreie Forschung, was ganz grundsätzlich nicht möglich ist. Jede Art von wissenschaftlicher Tätigkeit hat auch eine politische und gesellschaftliche Bedeutung. Wer vorgibt, sich außerhalb solcher Bedeutungen zu bewegen, manipuliert damit sein Publikum.

Eine weitere Perspektive wäre eine historische und soziologische Einordnung: Wissen und Wissenschaft entfalten sich in einem Kontext, der sich verändert. Der Wissenschaftsbegriff, der von »Fakten« und vernünftigen Argumente ausgeht, ist Teil einer diversen akademischen Landschaft geworden, in der Menschen aus verschiedenen Bevölkerungsteilen mit unterschiedlichen Methoden forschen. Das verschwörungstheoretische Denken ist eine Methode, um eine bestimmte Art von Wissenschaft zu stärken und andere abzuwerten.

Nun: Was lässt sich tun? Wie in Bezug auf politische Verschwörungstheorien erlebe ich die Kraft dieser Denkformen in Online-Gesprächen. Menschen, die in meiner Wahrnehmung breite Themenfelder offen diskutiert haben, schränken in letzter Zeit ihren Fokus ein. Sie übertragen US-Debatten auf den deutschsprachigen Raum, hören lange Podcasts und schenken den Vertreterinnen und Vertreten dieses verschwörungstheoretischen Denkens viel Vertrauen, behandeln die großen Männer, die diese Denkformen strategisch ansprechen, mit Verehrung – und finden kaum andere Themen als die Entwicklung an Universitäten, die sie kaum noch direkt miterleben.

Helfen würde aus meiner Sicht, wenn sie universitäre Veranstaltungen besuchen würden, um zu sehen, wie dort Argumente ausgetauscht werden, welche Ansprüche an Argumente und Methoden gelten und auch in Konkurrenz zu einander evaluiert werden. Zudem ist es sinnvoll, von den Anekdoten und teilweise auch tragischen Geschichten zu abstrahieren, eine größere Entwicklung in den Blick zu nehmen. Dann würde zum Beispiel deutlich, dass die Geisteswissenschaft nicht Universitäten dominieren, sondern gerade im englischsprachigen Raum einen gefährlichen Einbruch erleben.

Anmerkung: Das ist ein Gesprächsbeitrag. Wer argumentieren möchte, kann gerne die Kommentarfunktion benutzen, ich freue mich über Reaktionen.

Einer der Skandale und seine Darstellung in den rechten Medien: Weinstein und das Evergreen College (Einordnung)

Zusatz: Ich wurde gebeten, am Beispiel der Weinstein-Story zu zeigen, inwiefern die vier Annahmen dort nicht zutreffen könnten. Eine Zusammenfassung lasse ich aus – der verlinkte Wikipedia-Beitrag liefert die. Ich zeige hier eine Perspektive auf den Fall auf. Mein Argument geht so: Das verschwörungstheoretische Denken blendet andere Perspektiven aus und konzentriert sich ausschließlich auf die Evidenz, die *für* die vier Annahmen spricht. Entsprechend konzentriere ich mich hier – in aller Kürze — auf das, was sie widerlegen könnte, aber häufig ausgeblendet wird. Es geht nicht um die Wahrheit im Fall Weinstein, sondern darum, welche Perspektiven man einnehmen könnte, wenn man ergebnisoffen über den Fall nachdenken möchte.

  1. Die Meinungsäußerungsfreiheit an Universitäten werde immer mehr eingeschränkt.

Aus der Perspektive einer Studentin, Jacqueline Littleton, steht es wie folgt um die Meinungsäußerungsfreiheit am Evergreen College, wo Weinstein lehrte.

Weinstein is within his rights as an academic and an American to voice his opinions, no matter how wrong. The fact remains that these were not private emails. He voiced these opinions in a public email forum which all faculty and staff, including student staff, could view and that should signify he was open to the possibility of dissent from the student body. As the livestream videos of the 30 minute protest shows, dissent happened.

Erst in der darauf folgenden Medienkampagne hat Weinstein dieser Sicht zufolge die Proteste an der Universität als eine Einschränkung seiner Meinungäußerungsfreiheit interpretiert – obwohl seine Emails einen Monat lang diskutiert wurden und der Protest durch einen von ihm völlig unabhängigen Anlass ausgelöst wurde. Kurz: Es gibt eine Sichtweise, der zufolge Weinstein seine Meinung frei und uneingeschränkt vertreten konnte.

2. Das habe damit zu tun, dass in den Sozial- und Geisteswissenschaften politischer Aktivismus an die Stelle von Wissenschaft getreten sei.

Dieser Fall ist ein universitätspolitischer. Es geht dabei nicht um Lehre oder wissenschaftliche Tätigkeiten.

3. Der Raum für echte wissenschaftliche Auseinandersetzung, faktenbasierte Argumente und rationale Kritik werde dadurch immer kleiner.

Gemäß einer anderen Perspektive ist ein Weinstein selber, der eine wahrhaftige, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kontroverse verunmöglichte:

Though Weinstein calls himself a progressive, he went on the rabidly right-wing, anti-immigrant Tucker Carlson Tonight on Fox News shortly after the protests. Carlson claimed that white people had been forced off campus, which was not true. He then played a clip of the protest, framing it to suggest, falsely, that the protest had been a response to Weinstein’s email alone. Weinstein co-signed that version of events, and did not correct Carlson when he said that the core demand of the protesters was that white people leave campus — which, again, was completely false. Participation in the Day of Absence was voluntary, and student demands did not include any discussion of forcing students off campus.

4. Personen, die für die wissenschaftliche Methode eintreten, würden diffamiert, in eine rechte Ecke gestellt und mit unlauteren Mitteln aus dem Betrieb ausgeschlossen.

Weinstein hat die Schule verklagt und in einem Vergleich eine Entschädigung von 500'000 Dollar erhalten. Im Rahmen dieser Einigung wurde auch das Arbeitsverhältnis aufgelöst. In der New York Times wurde Weinstein als »Renegade des Intellectual Dark Webs« dargestellt.

Die Folgen des Weinstein-Skandals sind paradoxerweise eine Einschränkung der Meinungsfreiheit an der Universität – die aber anders als häufig dargestellt, Weinstein und rechtskonservative Medien hervorgerufen haben:

The Weinstein controversy has also had permanent effects on the college itself. In 2018, Evergreen decided to cancel the Day of Absence. The official school statement says that the event was canceled because “Gross and deliberate mischaracterizations of the event in 2017 provoked violent threats against students, staff and faculty.” In short, encouraged by Weinstein, right-wing hate-mongers were successful in their effort to shutter an anti-racist event, all under the banner of defending “free speech.”

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