»Squid Game« als Allegorie auf die Leistungskultur der Schule
Die Serie »Squid Game« (Hwang Dong-hyuk, Südkorea 2021) ist seit einem Monat auf Netflix zu sehen. In dieser Zeit ist sie enorm populär geworden – sie hat sich viral verbreitet. Das ist einerseits auf das sorgfältige Design der Sets und der Kleidung zurückzuführen, die zu einem starken Wiedererkennungseffekt führen, andererseits hängt es mit dem einfachen Plot zusammen: Verschuldete Erwachsene spielen Kinderspiele. Wer verliert, wird getötet – wer gewinnt, wird reich. Das führt zu dramatischen Situationen, in denen die Handlungen und Entscheidungen von Figuren scheinbar dazu führen, dass andere sterben (tatsächlich sterben sie, weil jemand ein morbides, grausames Spiel mit Menschen spielt und sie industriell ermordet). »Squid Game« erzählt die Geschichte eines absurden Konzentrationslagers, in das sich die Gefangenen freiwillig begeben haben und in dem sie »spielen« sollen.
Berichte aus verschiedenen Ländern dokumentieren, dass Kinder beginnen, auf Pausenplätzen »Squid Game«-Szenen nachzuspielen, obwohl die Serie äußerst brutal und für Erwachsene gemacht ist. Allerdings verbreiten sich Kernelemente der Story und der Ästhetik über TikTok, so dass Kinder die Serie auch dann kennen, wenn sie diese zuhause gar nie geschaut haben. Das Nachspielen ist aus meiner Sicht deshalb naheliegend, weil die Leistungskultur der Schule dazu führt, dass sie wie »Squid Game« funktioniert. Genauer: »Squid Game« kann als Allegorie auf die Leistungskultur der Schule gelesen werden. Damit sage ich nicht, dass an Schulen Kinder systematisch umgebracht werden – sondern dass die Serie Aspekte verdeutlicht, die auch in der Schule zu Problemen führen. Besonders dann, wenn Schulen über Noten Leistungen bewerten.
(Die folgenden Abschnitte enthalten leichte Spoiler.)
Die Regeln akzeptieren
Ein »Squid Game«-Spiel ist Seilziehen: Zwei Teams von 10 Personen treten gegeneinander an, wer verliert, stirbt – wer gewinnt, kommt eine Runde weiter. Eine menschliche, rationale Reaktion auf dieses Spiel wäre, es nicht zu spielen. (Diese Reaktion wäre wohl auch realistisch, wie der Verweis auf die »Fassadentheorie« zeigt.)
Die Spielenden in der Serie haben aber längst die Regeln akzeptiert. Sie wissen, dass sie nur dann weiterkommen und eine Aussicht auf ein schuldenfreies Leben haben, wenn sie das Spiel nicht hinterfragen und sich Strategien zurechtlegen, um beim Seilziehen zu gewinnen. So funktionieren auch die problematischen Aspekte an Schule: Unmenschliche Formen der Disziplinierung und problematische Formen von Leistungsmessung werden nach kurzer Zeit von Schüler*innen nicht mehr hinterfragt, sondern als Regel akzeptiert. Wer das nächste Level erreichen und eine Aussicht auf ein erfolgreiches Leben haben will, muss da durch.
Sinnlose Spiele
Wo müssen Schüler*innen durch? Durch oft sinnlose Spiele. Die Diskussion darüber, wie relevant zu lernender »Stoff« an Schulen ist, welche Kompetenzen tatsächlich damit verbunden sind, flammt immer mal wieder kurz auf, wird dann aber sofort wieder erstickt – oft auch mit dem Argument, dass Schüler*innen halt auch Dinge »lernen« müssten, die nicht sichtbar relevant sind, deren Wert sie im Moment nicht beurteilen könnten.
So beginnen sie, mechanisch zu lernen. Sie pauken Vokabeln, lernen Seiten aus Büchern und Heften auswendig, um bei der Prüfung irgendwas hinzuschreiben, was hoffentlich noch ein paar Punkte gibt; suchen nach Rezepten, mit denen sie mathematische Aufgaben so abarbeiten können, dass sie aufs richtige Resultat kommen, auch wenn sie die dahinterliegenden Konzepte nicht verstehen.
Sie sind wie die Spieler*innen bei »Squid Game«, die nicht mit Murmeln spielen, weil sie dabei Spaß hätten – sondern weil sie nicht anders können. Sich entfalten zu können, als Person zu wachsen – das ist weder bei »Squid Game« noch in einer leistungsorientierten Schule vorgesehen, sondern allenfalls ein Nebeneffekt.
Soziale Normen verpackt als kriteriale Normen
Die ersten Spiele bei »Squid Game« lassen den Eindruck aufkommen, dass bestimmte Leistungen genügen würden, um eine Runde weiterzukommen. Beim »Honeycomb«-Game müssen die Spielenden beispielsweise Figuren aus einem harten Zuckergebäck feilen. Wer das schafft, lebt. Das ist eine kriteriale Leistungsnorm: Theoretisch könnten alle Spielenden gewinnen (oder verlieren) – entscheidend ist die spezifische Leistung.
Dieser Eindruck erzeugt auch die Schule. Tatsächlich ist es aber in der Serie wie in der Leistungskultur so, dass soziale Normen im Hintergrund bestimmen, wie Leistung beurteilt wird. Nicht alle Schüler*innen können gute Noten erhalten – es muss schlechte Noten geben, damit die guten etwas bedeuten. Schüler*innen müssen ausgeschlossen, nicht versetzt, in unterschiedliche Schultypen eingeteilt, nicht zum Studium zugelassen werden, damit die erfolgreichen sich einreden können, ihre Leistung sei ausschlaggebend für ihren Erfolg. Der Erfolg wird aber vom System hergestellt. Die Verantwortlichen von »Squid Game« könnten allen Teilnehmenden das Geld geben, das sie für das Spiel aufwenden, wenn sie wollten. Schulen könnten allen Schüler*innen zeigen, wo ihre Stärken liegen.
Die Tatsache, dass das vom System nicht gewollt ist, wird als objektive Beurteilung einer Leistung verkauft – ist aber tatsächlich nichts anderes als soziale Selektion.
Fehlende Chancengleichheit
Einzelne Gefangene in »Squid Game« erhalten von den Wärter*innen gewisse Vorzüge – worauf die Verantwortlichen mit drastischen Strafen reagieren, weil die Spiele unter gleichen Voraussetzungen stattfinden sollten. Alle Spielenden sollten dieselben Chancen haben. Nur: Das haben sie nicht. Nicht nur können sie die Spiele unterschiedlich gut spielen, die Spiele sind bewusst so designt, dass Zufälle, Willkür und nur wenigen zugängliche Informationen darüber entscheiden, wer gewinnt und wer verliert. Die Spielenden werden nicht darüber informiert, was gespielt wird, wie die Regeln ausgelegt werden und wie sie sich auf die Spiele vorbereiten können.
Ähnlich funktioniert Schule: Chancengleichheit wird lediglich behauptet oder angenommen. Empirisch lässt sich leicht nachweisen, dass diese Chancengleichheit eine Illusion ist. Erfolg in einem leistungsbezogenen Bildungssystem ergibt sich aus Faktoren, die rund zur Hälfte nicht mit der Leistung von Schüler*innen zusammenhängen.
Wer muss spielen?
Im Intro von der Serie wird ein Schema gezeigt, das für das abschließende Spiel benutzt wird. Die Darstellung zeigt aber auch eine gesellschaftliche Struktur: Das Ziel des Spieles ist es, vom unteren Kreis in den oberen zu kommen. Der untere Kreis steht für die überschuldeten Teilnehmenden, die durch ihre Lebensumstände in einer so ausweglosen Situation sind, dass sie freiwillig an einem morbiden Spektakel für eine Elite teilnehmen. Diese Elite ist der obere Kreis. Dazwischen liegen zwei weitere Bereiche der Gesellschaft, der untere und der obere »Mittelstand«.
»Squid Game« betrifft nur den unteren Kreis. Die Allegorie der Serie bezieht sich dann auf die Frage, wie Menschen mit belastenden Voraussetzungen es schaffen, im Bildungssystem nach ganz oben zu kommen. Der »Tod« bedeutet dann schlicht, es nicht geschafft zu haben. Sieht man die Serie und das Bildungssystem so, dann ist es nicht sehr unrealistisch, dass von über 400 Spielenden am Schluss 1 bleibt: So wenige schaffen es (im Bildungssystem) vom unteren Kreis in den oberen. Die Serie zeigt uns nicht, wie Bildung in der Gesellschaft funktioniert – sondern wie das System sich für Menschen anfühlt, die ohne finanzielles und soziales Kapital aufwachsen. Aus der Sicht der Elite ist das Spiel unterhaltsam, für die Angestellten ist es nur ein Job, für die im Spiel Erfolgreichen beinhaltet es eine Karriere.
Für die Menschen im unteren Kreis ist Bildung – ähnlich wie das »Squid Game« – die einzige Chance, um aus Armut und anderen sozialen Belastungen zu entkommen. Diese Chance bleibt aber 1 von über 400 vorbehalten.
»Wer heute scheitert, ist vermeintlich selbst schuld«, schreibt Aladin El-Mafaalani in der Einleitung von Mythos Bildung. Während wir Verständnis für Kinder aus armen Familien hätten, fehlt die Empathie für arme Erwachsene. Genau so erleben viele Zuschauer*innen die Serie: Wir empfinden Mitgefühl für die (netten) Spielenden und ihre unmöglichen Entscheidungen, wenn wir sie in dem Umfeld erleben, das sie zu Kindern macht. Sobald sie aber im »echten« Leben stehen, sind sie Loser, die durch Alkohol, Spielsucht und verantwortungslose Lebensführung dort gelandet sind, wo sie sich in der Gesellschaft befinden.
Mobbing
Die Spiele in »Squid Game« nehmen im Laufe der Serie einen inoffiziellen Charakter an: Sie setzen sich bei der Verpflegung und bei den Ruhezeiten fort. Die Verantwortlichen provozieren Gewalt und den Häftlingen, sie wollen, dass diese sich gegenseitig umbringen, auch wenn nicht gespielt wird.
In der Schule ist dieser Faktor Mobbing. In ihrem einschlägigen Buch zu Cybermobbing schreibt die Linguistin Konstanze Marx (S. 325f.):
Gewalt ist jedoch […] punktuell aufscheinende Ausnahme, sondern musterhaft in unserer Gesellschaft verankert und wird in einer gemeinhin geförderten Atmosphäre mangelnder Kooperation offenbar. […] In einem „Schulklima des Helfens“ und wertschätzenden Miteinanders gibt es nachweislich weniger Probleme mit Mobbing und Cybermobbing. (Reihenfolge der Sätze umgestellt, Ph.W.)
Die Leistungskultur bringt Kinder und Jugendliche dazu, sinnlose Spiele gegeneinander zu spielen, ohne dass das explizit zugegeben wird. Diese »Atmosphäre mangelnder Kooperation« braucht Ventile – dazu gehört Mobbing. Dass Kinder nun ausgerechnet »Squid Game« als Muster für Mobbing und Gewalt benutzen, mag ironisch erscheinen – eigentlich ist es aber die logische Konsequenz aus der absurden Vorstellung, Lernen müsste an soziale Leistungsnormen gekoppelt werden.
Die ganze Allegorie geht auf eine Anregung von Dominic Bretscher zurück, herzlichen Dank dafür! Auf den Aspekt der gesellschaftlichen Bedeutung von Schule hat mich Axel Krommer hingewiesen.