»Moralismus« – was ist das?

Philippe Wampfler
5 min readJun 5, 2020

»Seuche Moralismus – Wie Überkorrektheit die Gesellschaft vergiftet« lautet der Titel eines Juni-Dossiers der Zeitschrift »Schweizer Monat«. Lese ich das, dann lassen mich schon die Metaphern der Krankheit und des Gifts vermuten, dass »Moralismus« ein Begriff ist, der nicht weit trägt – ein Begriff, der nach Uwe Pörksen ein Plastikwort ist:

Ungezählte Eindrücke werden auf einen Begriff gebracht, an einen Namen geheftet, und dieser Name gewinnt eine gewisse Selbständigkeit. Man vergisst, dass er nur eine begrenzte Sicht beinhaltet und verwechselt ihn mit der Sache. (S. 20)

Wörter, so Pörksen weiter, seien »Kristallisationspunkte des Zeitbewußtseins«. »Moralismus« passt in diese Kategorie, so meine Hypothese. Wer das Wort verwendet, beabsichtigt damit zweierlei:

  1. von moralischen Diskussionen ablenken (Derailing)
  2. die Deutungshoheit behalten wollen, indem moralische Fragen auf einer Metaebene verhandelt werden.

Diese Hypothese überprüfe ich nun gerne am – von einer Tabakfirma finanzierten – Dossier, in dem ich alle Definitionen von »Moralismus« raussuche, zitiere und abschließend kurz kommentiere. Die Reihenfolge basiert auf den Seitenzahlen, die Auswahl habe ich so vorgenommen, dass aus jedem Text der Auszug verwendet wird, der das Verständnis von »Moralismus« auf den Punkt bringt.

Einleitung, Redaktion
Ein freier Mensch […] benötigt niemanden, der ihm sagt, was er zu tun, zu lassen, zu sagen hat.

Die letzte Ideologie, Alexander Grau
Doch erstmals in der abendländischen Kulturgeschichte ist Moral heutzutage nicht länger der Ausdruck eines übergeordneten und normierenden Wertesystems wie etwa der Tradition oder einer Religion. Der moderne moralische Diskurs kreist vielmehr ausschliesslich um sich selbst und bekommt damit nicht nur eine singuläre Geltung, sondern zugleich eine meinungsbildende Monopolstellung, die andere Erwägungen diskreditiert. Geradezu reflexartig werden etwa technische, wissenschaftliche oder ökonomische Probleme zu moralischen Fragen umgedeutet und in einen süsslichen Moralismus übersetzt. […] Hinzu kommt, dass die Moral vom Privaten ins Politische verlagert wurde. Kreisten noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts moralische Diskurse weitgehend um die private Lebensführung, also um das, was einmal Sitte und Anstand hiess, so wurden moralische Überlegungen weitgehend in den Bereich des Gesellschaftspolitischen verbannt. […] Erstaunlich an dieser Entwicklung ist dabei weniger die Moralisierung von Sachfragen an sich, sondern vielmehr die Kompromisslosigkeit, mit der dies geschieht.

Faites vos jeux, Benjamin Bögli
Wenn Verzicht und Nachsicht aber zur Pflicht werden — zur blossen Einhaltung der Gesetze –, schwindet der Zauber.

Ich bin ein Libertin…, Vitaly Malkin
Man muss sich fragen, ob die von ihren Anhängern als «revolutionär» präsentierte Moral nicht vielmehr die Moral einer von politischer Korrektheit besessenen Gesellschaft ist. Was geht es uns an, dass ein Mann sich nackt gefilmt und das Video einer jungen Frau geschickt hat? Mir scheint, dass die Empörung aus einer impliziten Argumentation entspringt, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Da der Mensch frei ist, hat er seine Begierden zu kontrollieren, ansonsten gilt er als Lüstling. Schlimmer: Wenn der Mensch Begierde verspürt, liegt dies daran, dass die Natur selbst fehlerhaft und unvollkommen und deshalb zu bekämpfen ist. Mir erschliesst sich nicht, wie unsere Gesellschaft diesen irreführenden Syllogismus akzeptieren kann. Mehrere Philosophen haben die Lust als eine Essenz unseres Lebens erkannt.

Interview, Grob/Harlacher
(Grob) Mir fällt auf, dass die Erwartungen an produzierende Unternehmen ständig ansteigen: Nun sind nicht mehr nur einwandfreie Produkte gefragt, sondern auch ein moralisches Verhalten. Wie gehen Sie damit um?
(Harlacher) Wir achten darauf, woher unsere Rohstoffe kommen und wie wir mit unseren Partnern umgehen. Etwas aus einer Selbstverständlichkeit heraus zu tun, ist ein wirklicher Wert. Moralische und ethische Werte im Unternehmen zu vertreten und zu leben, erachte ich als wichtig.

Keine Macht den Denunzianten, Stegemann
In früheren Zeiten wurde jemand, der die Moral benutzt, um sich selbst zu erhöhen, als Moralist bezeichnet. Sein Moralmissbrauch führt in einer fatalen Konsequenz dazu, dass die Moral nicht mehr auf universellen Werten beruht, sondern aus dem individuellen Urteil resultiert, das zwangsläufig zur Doppelmoral führt.

Eine Allzweckwaffe für alle, Jörg Scheller
Moral in voller Konsequenz zu leben, auch was den moralischen Gebrauch der Mittel betrifft, wäre die höchste Form der Lebenskunst. Doch beim Versuch, Moral gänzlich durchzusetzen, fallen die Mittel erfahrungsgemäss eher unmoralisch aus — es sei denn, man hat das Menschenverachtende vorausschauend als Teil menschenfreundlicher Moral legitimiert.

Schuldig durch Anklage, Alexander Wendt
Aus einer Bewegung, die angetreten war mit dem erklärten Ziel, Stigmatisierung zu beenden, ist ein Machtkomplex geworden, dem die Stigmatisierung von anderen längst nicht genügt. Das Stigma markiert Gegner, um sie anschliessend zu marginalisieren und schliesslich unsichtbar zu machen.

Macht der Maschinenmoral, Karsten Weber
Manche neigen dazu, bestimmte Formen der (algorithmischen) Manipulation als Nudging zu bezeichnen — Algorithmen stupsen uns in die richtige Richtung, ob nun bei Ernährung, Fitness oder anderen moralisch hochgradig aufgeladenen Verhaltensweisen. Doch Nudging bleibt Manipulation, wenn auch in einem liberalen Gewand. Da kaum jemand von uns weiss, wie Algorithmen funktionieren und wessen (moralische) Urteile und Werthaltungen in deren Gestaltung einfliessen, sollten wir daher ins Grübeln kommen.

Moralismus ist der Borkenkäfer, Vera Lengsfeld
Auch als in der Coronakrise Grenzschliessungen angeordnet wurden, ist die illegale Einwanderung davon ausgenommen worden. Wer Asyl sagen kann, wird reingelassen, auch wenn er IS-Terrorist ist. Durchgesetzt wird das mit einem rigiden Moralismus, der auch die leiseste Kritik als fremden- oder gar menschenfeindlich stigmatisiert.

Was verbindet diese Definitionen oder Verständnisse von »Moralismus«? Auf den ersten Blick wenig. »Moralismus« bezieht sich auf ganz unterschiedliche Handlungen:

  • Handlungen des Staates, die sich nicht direkt auf die Einhaltung von Gesetzen beziehen
  • Handlungen des Staates, die zwar juristisch begründet werden, aber Vera Lengsfeld missfallen
  • gesellschaftliche Normen und Erwartungen
  • algorithmisch gestütztes Nudging
  • aus moralischen Überzeugungen gewählte Mittel, die diesen Überzeugungen widersprechen
  • Rücksichtnahme und Kontrolle von Begierden, wenn sie andere betreffen oder Leid verursachen
  • moralische Perspektiven auf gesellschaftliche Perspektiven
  • aus moralischen Gründen benutzte Machtmittel und Aufmerksamkeitsökonomien
  • aus aufmerksamkeitsökonomischen Gründen benutzte Moral

Diese doch lange Liste belegt, wie diffus der Begriff ist. Obwohl der Redaktion ein »Dossier« dazu angelegt hat, versteht sie in ihrer Einleitung den Begriff ganz anders als viele der Autoren (und auch anders als die einzige Autorin). Sobald der Begriff genau gefasst würde, würden Argumentationen kippen, träten Widersprüche auf. Mehr noch: Die Texte sind durchzogen von moralischen Argumentationen, von Erwartungen, von Normen – die durch das, was »Moralismus« genannt wird, unter Druck geraten. Migration, Konsum, Sex, Meinungsäußerungen, Unternehmensführung etc. soll alles bestimmten moralischen Vorstellungen folgen, aber halt anderen, als denen, die »Moralismus« genannt werden. Das verbindet die Texte wiederum. Sie benutzen die »Moralismus«-Metaebene, um bestimmte Forderungen zu diskreditieren, zu stigmatisieren, sie abzulehnen – ohne sich direkt mit den Argumenten auseinandersetzen zu müssen.

Ein ethisches Urteil bewertet menschliche Handlungen, ist kategorisch und beansprucht allgemeine Gültigkeit. »Moralismus«-Argumentationen sind meist verkleidete ethische Urteile über andere ethische Urteile. Wenn einige der hier zitierten Männer sexualisierte Übergriffe gutheißen, dann tun sie das nicht, indem sie sich direkt auf diese Übergriffe beziehen, sondern sie verweisen auf die ethischen Urteile, welche diese Übergriffe ablehnen. Das ist letztlich nichts als ein argumentativer Trick, der nicht funktioniert. Ein Versuch, moralischen Fragen auszuweichen.

XKCD Playing Devil’s Advocate to Win CC BY-NC 2.5

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Philippe Wampfler

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