Menschen, Umgebungen und Systeme

Philippe Wampfler
3 min readNov 13, 2021

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Ja, wir haben uns als Art in der Evolution immer mehr zur Freundschaftlichkeit hin entwickelt, aber genau diese Freundschaftlichkeit kann zum Problem werden, denn sie kann in blinde Gefolgschaft umschlagen, und dann geschieht es, dass die Menschen Böses tun, nicht etwa, weil sie sadistisch veranlagt wären, sondern weil sie wirklich glauben, dass sie, indem sie den Befehlen folgen oder indem sie das vermeintlich Gute der Gruppe tun, etwas Gutes befördern, obwohl sie tatsächlich etwas Böses tun. – Rutger Bergman

Wie handeln, entscheiden, leben Menschen? Diese Frage untersucht die Sozialpsychologie. Viele bekannte Ergebnisse aus dieser Forschung sind mittlerweile korrigiert oder zumindest in Zweifel gezogen worden – so zum Beispiel das Stanford-Prison-Experiment oder das Milgram-Experiment. Beide hatten untersucht, was Menschen dazu bringt, anderen Leid zuzufügen. Dabei wurde übersehen, dass die Experimente an sich Menschen beeinflussen. Ihre Ergebnisse sind nicht neutral, sondern bezogen auf das Versuchsumfeld.

Tim Gouw, Unsplash

Darin steckt eine tiefere Bedeutung: Wie Menschen handeln, entscheiden und leben hängt davon ab, in welchen Umgebungen und Systemen sie das tun. Was ist damit gemeint?

Handlung sind beeinflusst durch:

  1. Handlungen anderer Menschen
  2. die wirtschaftliche Situation von Menschen
  3. die Kultur und Erfahrungen von Menschen
  4. Erwartungen, die an Menschen gestellt werden
  5. das Wissen und die Wahrnehmung einer Person
  6. Vorschriften
  7. natürliche Gegebenheiten
  8. genetische Anlagen

Eine Handlung kann auf keinen dieser Faktoren reduziert werden. All diese Faktoren machen bestimmte Handlungen wahrscheinlicher oder weniger wahrscheinlich. Sie sind in Systemen gebündelt, die sich auch überlagern: Menschen leben in einem Quartier, in einer Familie, bewegen sich in einem Freundeskreis, an Arbeitsplätzen etc.

Das führt dazu, dass sich Menschen aus bestimmten Berufsgruppen, in bestimmten Regionen, aus bestimmten Kulturen weniger oft impfen lassen als andere. Das hat nicht mit ihrer Uneinsichtigkeit zu tun, es lässt sich auch moralisch kaum bewerten. Wer in einem Umfeld lebt, das Impfungen als Problem sieht, wird davon beeinflusst.

Warum schreibe ich das auf?

Sehr oft denken wir, individuelle Menschen mit Argumenten von etwas überzeugen zu müssen oder zu können. Das hilft oft nichts. Wer in einer Kultur aufgewachsen ist, in der Fleisch essen eine wichtige soziale Bedeutung hat, einen Beruf hat, der wirtschaftlich direkt mit Fleischkonsum verbunden ist, Fleisch mag und in einer Familie lebt, die täglich Fleisch isst, wird sich nicht davon überzeugen lassen, vegetarisch zu leben, weil es dafür gute Argumente gibt.

Die Person verschließt sich diesen Argumenten nicht, sie wirken einfach weniger stark, weil die vernünftige Auseinandersetzung mit Entscheidungen und Handlungen nur ein kleiner Faktor unter vielen anderen ist. Wer Menschen bzw. ihre Handlungen und Überzeugungen ändern will, muss das systemisch denken: Welche Faktoren lassen sich wie ändern, damit die Entscheidung für Fleisch unwahrscheinlicher wird?

Systemisch zu denken entlastet: Beziehungen werden einfacher, wenn man akzeptiert, dass andere in Kontexten stehen, die sich von unseren unterscheiden. Engagement wird leichter, wenn man Systeme umbaut statt Menschen überzeugen will.

Nur Verantwortung wird komplizierter: Weil wir nicht nur unser Handeln verantworten, sondern auch unseren Einfluss auf Systeme. Wir haben Erwartungen an andere, unsere Handlungen stellen den Rahmen für die Handlungen anderer dar. Das alles müssen wir mitverantworten, wenn wir nachhaltig und ganzheitlich darüber nachdenken.

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