Meine depressive Episode und was ich dagegen unternommen habe
Update Mai 2022:
Vor einem Jahr wurde mir bewusst, dass ich in einer schweren psychischen Krise stecke. In diesem Jahr habe ich einiges in meinem Leben verändert: Zunächst mein Selbstbild, mein Verständnis von dem, wer ich bin. Ich schaffe vieles nicht, was ich schaffen möchte; kann meinen Vorstellungen verschiedener Rollen nicht entsprechen. Zu oft erwarte ich von mir (und auch von anderen) noch zu viel, was sofort zum Gefühl der Ohnmacht führt. Allgemein habe ich Erwartungen aber runtergeschraubt – auch mit Routinen: Ich arbeite weniger, nehme mir jeden Tag Zeit für Sport und Natur. Die Krise ist deshalb hinter mir, sie lauert aber immer noch. Ich renne jeden Tag ein wenig von ihr davon.
»It was me.« Dieser Satz ist kürzlich in einem Podcast von John Green bei mir hängengeblieben: Die Umstände sind, wie sie sind. Ich kann nur beeinflussen, wie ich damit umgehe. Andererseits sind die Umstände für viele so, wie sie sind. »It wasn’t just me.« Das letzte Jahr hat mir gezeigt, dass ich nicht der einzige bin, der unter alle dem leidet. Manchmal tröstet das, manchmal belastet es noch mehr.
In den letzten Tagen habe ich mehrmals gehört, ich wirke glücklich und gesund. Das freut mich sehr. Gerne würde ich mich noch etwas glücklicher und gesünder fühlen – aber letztlich muss ich einfach dankbar sein: Für das Verständnis aller Menschen, die mir nahestehen, ihre Unterstützung und die vielen Ressourcen, auf die ich zurückgreifen kann.
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Im Frühling 2021 wachte ich plötzlich früh auf. Zuvor schlief ich wie ein Stein, bis zum Klingeln des Weckers. Plötzlich war ich um 5 so wach, dass ich nicht mehr einschlafen konnte. Meine Gedanken begannen zu kreisen: Ich fühlte mich nervös, gestresst, leer, traurig und einsam. Manchmal zugleich, manchmal abwechslungsweise. Das Gefühl breitete aus und erstreckte sich in meinen Tag hinein.
Was ich tat, war begleitet von einer gewissen Leere. Oft wurde ich plötzlich traurig und war sehr sentimental. Ich fühlte mich für vieles schuldig und gleichzeitig ohnmächtig. Gründe für dieses Gefühl gab es einige: Die Belastung der Pandemiesituation, beruflicher Stress, Midlife-Crisis und damit zusammenhängende Fragen über meine Rollen im Leben, im Beruf, in der Familie.
Ich merkte schnell, dass es mir nicht gut ging und redete mit Mitmenschen darüber. Gleichzeitig meldete ich mich bei der Hausärztin für einen Termin an und begann eine Psychotherapie. Mein Therapeut sagte mir in der ersten Sitzung, dass ich eine depressive Episode erlebe. Selber hatte ich schon einige Strategien entdeckt, die mir etwas Linderung verschafften: Sport, Aktivieren von Freundschaften, intensives Reden über das, was mich belastet, nachdenken über meine Ressourcen – und Fokus auf berufliche Aktivitäten, die sich so anfühlten, als könnte ich etwas erledigen.
Meine Krise war nie so tief, dass ich meinen Verpflichtungen nicht nachkommen konnte. Ich habe großes Glück, es besteht aus einem starken und verständnisvollen Umfeld und einem strukturierten Alltag, bei dem ich interessante Aktivitäten und Formen der Zusammenarbeit wahrnehmen konnte. Zudem spürte ich nach zwei Wochen, dass alles etwas weniger schlimm wurde, auch wenn das frühe Aufwachen blieb. Ich lag weniger rum, sondern las oder ging rennen.
Die emotionalen Abgründe lauern noch immer. Sobald die Belastung größer wird, ich Streit habe oder verunsichert werde, spüre ich die Trauer und Leere. Mein Schlaf ist fragil, ich wache oft und früh auf. Ich brauche mehr Struktur, muss mich an gewissen Dingen festhalten. Wenn ich laufen gehen kann, schaffe ich es momentan recht gut durch den Tag. Das klingt sehr provisorisch und so fühlt es sich auch an.
In »Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?« schreibt Till Raether am Schluss, er habe es lange unmöglich gefunden, sich die Erlaubnis zu geben, sich besser zu fühlen. Ich war über 40 Jahre lang nicht depressiv, habe mich fast immer gut gefühlt, war produktiv, optimistisch, locker. Diese Erlaubnis ist nicht mein Problem. Mehr die Erfahrung, dass mir die Kontrolle entgleiten und die Leere mich erfassen kann. Ich kann sie heute aber mit dem Wissen verbinden, dass Gespräche und Therapie mir helfen.