Kulturelle und neurologische Diversität — eine Herausforderung für Schule und Gesellschaft
Die Qualität von Schweizer Schulklassen wird nicht selten danach beurteilt, wie viele Kinder zuhause Schweizerdeutsch (»oder zumindest Hochdeutsch«) sprechen. Je homogener eine Klasse sei, desto höher ihr Niveau — so die subjektive Theorie dahinter.
Dabei könnte doch gerade eine Vielfalt von Sprachen und Kulturen in einer Klasse eine Stärke darstellen. Unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt, Erwartungen ans Leben, Möglichkeiten, sich auszudrücken — all das könnte unter den richtigen Bedingungen eine Stärke für eine Lerngruppe sein, keine Schwäche.
Diese hier angesprochene Diversität ist eine kulturelle. In den letzten 20 Jahren ist ausgehend von der Bewegung, die sich für die Rechte von Autistinnen und Autisten einsetzt, der Begriff der »Neurodiversität« stark gemacht worden.
Hintergründe über die Bewegung und den Begriff können hier nachgelesen werden:
Als Definition eignet sich dieser Abschnitt von Nick Walker:
Neurodiversity is the diversity of human brains and minds — the infinite variation in neurocognitive functioning within our species. Neurodiversity is a biological fact. It’s not a perspective, an approach, a belief, a political position, or a paradigm.
Schulklassen sind also sowohl kulturell wie auch neurologisch divers. Das ist absolut einleuchtend, zumal Menschen sich biologisch und durch die erfahrenen Umwelteinflüsse unterscheiden. Für beide Arten von Vielfalt gilt, was ich einleitend festgehalten habe: Für eine lebendige und starke Unterrichtskultur sind Unterschiede eine Ressource, keine Belastung.
Aus der Perspektive der Neurodiversity-Bewegung gibt es gerade im schulischen Kontext nicht genügend Bewusstsein für neurologische Differenzen, aber (zu) viel für kulturelle. So wird juristisch darüber verhandelt, ob Kinder, deren Eltern Muslime sind, Weihnachtslieder singen müssen. Gleichzeitig gibt es aber vielleicht neurodiverse Kinder, für die es ebenfalls eine Belastung ist, zusammen mit viele anderen singen zu müssen — ihre Bedürfnisse werden aber erst zögerlich wahrgenommen und geschützt. Typisch dafür ist die Diskussion über die medikamentöse Behandlung von ADHS (gerade ADHS ist ein gutes Beispiel für neurodiverse Verarbeitung).
Die Herausforderung wird verkompliziert, wenn die beiden Bewegungen gegeneinander ausgespielt werden. Geoffrey Miller hat argumentiert, die starken Sprachregeln an amerikanischen Universitäten, mit denen kulturelle Minderheiten geschützt werden sollen, seien eine zusätzliche Behinderung für neurologische Minderheiten, deren Verarbeitungsmuster oft dazu führen, sich sprachlich nicht normiert zu verhalten.
Klar ist: Starre Regeln und Normen führen zu Belastungen bei den Menschen, die Mühe haben, sich daran zu halten. Die Perspektive der Neurodiversität zeigt das sehr gut auf. Rücksichtnahme auf unterschiedliche Bedürfnisse kann nicht über Regeln erfolgen, sondern muss zentraler Teil der Unterrichtskultur sein. Wer nicht der Norm entspricht, muss gleichzeitig geschützt werden und Wertschätzung für die eigene Wahrnehmung erhalten. Das ist letztlich, was Individualisierung meint.
Die Gefahr liegt abschließend darin, dass die beiden Formen von Diversität gegeneinander ausgespielt werden. Millers Argument kann dafür benutzt werden, Rassismus und Sexismus zu legitimieren, weil sie Ausdruck von Neurodiversität seien. Das ist problematisch. Führt ein politische Kampf dazu, dass verschiedene Bewegungen gegeneinander ausgespielt werden, die Minderheiten schützen wollen — seien es neurologische oder kulturelle — , dann entsteht daraus keine Gesellschaft, die für alle Menschen lebenswert ist.
Symptomatisch dafür ist die Rede von »Snowflakes«, mit der angedeutet wird, die Bedürfnisse anderer Menschen entstünden aus einer übertriebenen Empfindlichkeit. Mir ist jedes Empfinden, das nicht meines ist, fremd. Wie kann ich mir anmassen, es als übertrieben darzustellen? Die rationale Lösung ist eine Diskussion darüber, wie verschiedene Empfindungen und Bedürfnisse geschützt werden können.