Individuelles, kausales und ungleiches Präventionsparadox

Philippe Wampfler
3 min readMay 10, 2020

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Während der verschiedenen Maßnahmen zur Reduktion der Covid-19-Infektionen war immer wieder die Rede vom Präventionsparadox. Erwähnt wurde hat es etwa Christian Drosten im viel zitierten Guardian-Interview und der Soziologe Armin Nassehi in einem Deutschlandfunk-Interview.

Was ich im Folgenden kurz zeigen möchte: Drosten und Nassehi beziehen sich auf ein mögliches Verständnis der Paradoxie. Daneben gibt es zwei weitere Definitionen.

Die Aussage von Nassehi zeigt das eine Verständnis deutlich, Drosten übernimmt diese Definition ziemlich genau:

Es mehren sich ja schon die Stimmen, die sagen, na ja, wir haben doch festgestellt, dass die Kliniken nicht überlastet sind, vielleicht hätte es dieses Shutdowns gar nicht bedurft — was sicherlich nicht der Fall ist. Wir Soziologen nennen das das Präventionsparadox: Also man sieht die Schäden nicht, die ausgeblieben sind. Und womöglich steht uns das noch mal bevor. (Nassehi, Deutschlandfunk)

Was hier vorliegt, ist das kausale Präventionsparadox:

  1. präventive Maßnahmen werden eingeleitet, weil eine unerwünschte Entwicklung damit verhindert werden soll
  2. die unerwünschte Entwicklung bleibt (wohl deswegen aus)
  3. die präventiven Maßnahmen werden als unnötig wahrgenommen, weil 2.

Das Problem liegt darin, dass einerseits die genaue Kausalität nicht beobachtet werden kann (weil Kausalität generell ein sehr schwieriges Konzept ist), andererseits wirksame Prävention und unnötige Prävention dasselbe Ergebnis teilen: eine unerwünschte Entwicklung bleibt aus.

Christoph Kappes hat nun Quellen gesucht, welche erklären, was mit dem Präventionsparadox gemeint ist. Ich beschränke mich hier auf den Artikel, den Peter Franzkowiak für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geschrieben hat. Darin wird der Begriff dem britischen Epidemiologen Geoffrey Rose zugeordnet, der ihn in den 1980er-Jahren geprägt habe. Die Definition:

Eine präventive Maßnahme, die für Bevölkerung und Gemeinschaften einen hohen Nutzen bringt, bringt dem einzelnen Menschen oft nur wenig — und umgekehrt. […] Das Präventionsparadox gilt für alle auf Risikofaktoren basierenden medizinischen Interventionen und Zielsetzungen, insbesondere für Maßnahmen der Verhaltensprävention.

Das heißt: Setzen Individuen, die noch nicht zu einer (Hoch-)risikogruppe gehören, präventive Maßnahmen um, dann verspüren sie davon einen geringen Nutzen. Gleichwohl wirkt die Maßnahme, wenn man eine große Zahl von Menschen betrachtet. Umgekehrt bewirken Maßnahmen, die eine Hochrisikogruppe betreffen, gemeinschaftlich betrachtet oft wenig.

Dieses Präventionsparadox würde ich als individuelles Präventionsparadox bezeichnen.

Franzkowiak beschreibt eine dritte Spielart des Paradoxes: Dabei geht es um Ungleichheit:

Gemeint ist, dass gerade die Adressat*innen und Zielgruppen mit höherem Vorsorge- oder Frühinterventionsbedarf eher eine herabgesetzte Akzeptanz und Nachfrage von Präventionsangeboten haben — im Gegensatz zu sozial und bildungsbezogen besser gestellten Adressat*innen mit höheren Gesundheitschancen und eher niedrigeren Bedarfen, welche die Präventionsangebote deutlich stärker nachfragen und in Anspruch nehmen.

Diese letzte Version des Präventionsparadox spielt also auf eine Diskriminierung an: Benachteiligte Menschen akzeptieren aufgrund ihrer Benachteiligung Präventionsmaßnahmen weniger gut, obwohl sie bei ihnen gut wirken würden.

Diese drei Spielarten des Präventionsparadoxes spielen bei Covid-19 aus meiner Sicht alle eine Rolle:

  1. Was Nassehi und Drosten betonen, ist die ausbleibende Wahrnehmung der Wirksamkeit der Maßnahmen, was zu einer sinkenden Akzeptanz führt – kausales Präventionsparadox.
  2. Die präventiven Maßnahmen (Masken tragen, Hände waschen, Distanz halten, zuhause bleiben) zeigen für Individuen eine kaum wahrnehmbare Wirkung, obwohl sie kollektiv sehr effizient sind – individuelles Präventionsparadox.
  3. Die Maßnahmen wirken auf Benachteiligte teilweise als zusätzliche Belastung und werden so nicht gut akzeptiert, obwohl sie gerade bei einer Umsetzung durch diskriminierte Personen viel Wirkung entfalten können – ungleiches Präventionsparadox.
Das kausale Präventionsparadox

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Philippe Wampfler

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