Ich liebe die NBA

20 Jahre nach Michael Jordan fasziniert mich Basketball von neuem. Das sind die Gründe dafür. 

Philippe Wampfler
6 min readFeb 18, 2014

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Dieses Wochenende fand das All-Star-Weekend der NBA in New Orleans statt. Ein sportlich belangloser Event — die besten Spieler der dem Westen zugeordneten NBA-Teams spielen gegen die All-Stars des Ostens. Verteidigt wird kaum, Resultat sind spektakuläre Spielzüge und viele Punkte. Die Tage rund um das All-Star-Weekend ist eine reine Inszenierung eines Star-Kults. Und doch habe ich deutlich mehr darüber gelesen und nachgedacht als über sämtliche Ereignisse an den Olympischen Spielen in Sotschi. Anlass genug, kurz zu notieren, was mich an der NBA so ungemein fasziniert.

1. Die Oberfläche. Und die Tiefe.

Stehe ich am Morgen an der Bushaltestelle, schaue ich auf der NBA-App drei oder vier Spielzusammenfassungen, mit denen ich den Weg zum Bahnhof zurücklege. Je gut zwei Minuten knackig kommentierte Highlights der Stars: Dunks, Blocks und makellose Distanzwürfe. Großartige Sportbilder, die Laune machen.

Sie sagen aber wenig darüber aus, was es braucht, um Spiele zu gewinnen. Und zwar die fast perfekte Mischung aus psychologischen, strategischen, taktischen, ökonomischen und technischen Überlegungen in der Zusammensetzung und Führung der Mannschaft. Schon alleine die Analyse von so genannten pick and rolls, also die Möglichkeit, eine Sperre zu setzen, die zu einer Unmenge an offensiven Aktionen und defensiven Reaktionen führt, ermöglicht Abhandlungen und Einsichten, die den casual fan nie erreichen. Hinter alle den Bildern steckt eine enorme Tiefe — und zwar in jede Richtung.

LeBron James von der Miami Heat blockt Darren Collison von den LA Clippers.

2. Die Bilder. Und der Journalismus dazu.

Die NBA weiß, dass der Sport durch die Bilder lebt. Und macht sie deshalb zugänglich: Jeder wichtige NBA-Moment ist auf Youtube zu finden. Die NBA selbst veröffentlicht Highlights — und zwar fast stündlich. Wer mit dem League Pass ganze Spiele sehen will, muss selbstverständlich zahlen. Aber die Verantwortlichen hindern Fans nicht daran, den Sport zu genießen und Bilder und Videos zu teilen.

Begleitet werden die Bilder von exzellenten Journalisten (Frauen gibt es darunter leider keine), welche die Tiefe nutzen, um immer wieder neue Perspektiven anzubieten. SBNation, Bleacherreport und Grantland — um drei Beispiele zu nennen — liefern taktische Analysen, in die sie bewegte und unbewegte Bilder einbinden, erklären das Spiel, lassen aber auch der Fantasie ihrer Autoren freien Lauf. Die Portale haben erkannt, dass eine Zusammenfassung der Spiele nicht zu ihren Aufgaben gehört, sondern eine Vertiefung, ein unterhaltender Kommentar.

3. Die Statistiken. Und die Unberechenbarkeit.

Statistiken wie die der NBA oder die von BasketballReference.com vermessen jeden Aspekt des Spiels. Der Beitrag jedes Spielers wird in allen Dimensionen erfasst: Wie gut spielt er mit wem zusammen, wo trifft er gut, was leistet er unter Druck, wie eigensinnig spielt er — jede denkbar relevante Frage wird mit Zahlen belegt.

Und doch wird das Spiel von Menschen entschieden, deren Bedeutung sich nie durch Zahlen ausdrücken lässt. Shane Battier ist dafür das eindrücklichste Beispiel: Der No-Stats All-Star kennt zwar die Statistiken bis ins letzte Detail und kann sich dennoch der Versuchung entziehen, für die Statistiken zu spielen. Battier ist

the most abnormally unselfish basketball player [Daryl Morey, ein Statistikexperte] has ever seen. Or rather, the player who seems one step ahead of the analysts, helping the team in all sorts of subtle, hard-to-measure ways that appear to violate his own personal interests.

4. Selektivität

»It is literally a one in a million shot«, sagt ein Trainer im Dokumentarfilm Lenny Cook Movie. Lenny Cook war 2011 der beste High-School-Spieler — und schaffte es dennoch nie, in der NBA zu spielen. Ähnlich wie Hoop Dreams von 1994 zeigt der Film, was Basketball für die ärmsten Amerikanerinnen und Amerikaner bedeutet: Eine überschätzte Möglichkeit, für die eigene Leistung belohnt zu werden. Die NBA ist Symbol für das Scheitern des American Dreams: 100 Stars haben es dank einer Mischung aus Glück, Genen und Genialität geschafft, für ihr Spiel mit horrenden Summen bezahlt zu werden. Alle anderen haben zwar Leistung gebracht, erhalten dafür aber keinen Ertrag. Weil sie mit 15 nicht genug gewachsen sind, ein Coach sie falsch eingeschätzt hat, sie im entscheidenden Moment nicht kaltblütig genug gewesen sind.

Bill Simmons weist in seinem lesenswerten Buch The Book of Basketball — dadurch ist meine erneute Basketballbegeisterung überhaupt erst entstanden — darauf hin, dass es Basketball in den USA geschafft habe, ein gesellschaftliches Problem zu lösen: Wie lässt es sich organisieren, dass jede Person eine Aufgabe übernehmen kann, für die sie optimal geeignet und motiviert ist?

Der zweite Aspekt darf in der NBA nicht vergessen werden: Obwohl der Weg so steinig ist, gibt es immer wieder Spieler, welche die Motivation nicht aufbringen, sich in ein Team zu integrieren und das Spiel professionell zu spielen — zuletzt Andrew Bynum, den die Cleveland Cavaliers suspendiert haben, weil er im Training den Ball bei jeder Berührung auf den Korb geschossen hatte.

Andrew Bynum.

5. Die epische Länge der Saison

Basketball gibt es mit Ausnahme einer kurzen Pause rund um das All-Star-Wochenende jeden Tag. Stehen nur drei Spiele auf den Programm, sind das wenige; an einigen Tagen werden bis zu 12 Partien durchgeführt. In vielen passiert wenig: Diese Tage verlieren die L.A. Lakers fast immer, die New York Knicks sehr häufig; dafür gewinnen die Indiana Pacers und die Oklahoma City Thunder fast immer. Um herauszufinden, wer gewinnt, muss man sich die Spiele kaum ansehen. Dafür gibt es Raum für kleine Geschichten, Duelle, Sonderbarkeiten während der Spiele. J.R. Smith öffnet während dem Spiel die Schnürsenkel seines Gegners, der Trainer Jason Kidd beauftragt einen Spieler, ein Getränk zu verschütten, ein Center verpasst einen Dunk und der Ball fällt auf seinen Kopf.

6. Die wirtschaftliche Grundeinsicht

Vordergründig symbolisiert die NBA den Kapitalismus: Millionenverträge für Stars, teure Stadien, Kommerzialisierung jedes Aspekts des Sports. Doch diese Seite trügt: Die Besitzer der Teams, die Liga und die Spielergewerkschaft einigen sich in regelmäßigen Abständen auf komplizierte Verträge, die Löhne klar festlegen. Verdienen die Besitzer mehr, sind die Spieler daran beteiligt. Sind die Spieler unzufrieden, streiken sie und die Saison fällt aus. Die Superstars akzeptieren harte Lohndeckel, die ihre Einkünfte massiv beschneiden.

Transfers erfolgen so nur für Spieler aus finanziellen Gründen. Vereine verdienen bei Transfers nichts, vielmehr geben sie die Verträge weiter und erhalten dafür andere Verträge oder Picks, also die Möglichkeit, Junioren unter Vertrag zu nehmen. Für die besten Spieler ist Geld kein Grund, einen Verein zu wechseln — sie erhalten ohnehin den Maximallohn. Generell haben Spieler aber keine Mitsprachemöglichkeit, wo sie spielen möchten — werden sie getraded, so müssen sie innert Stunden in einer neuen Stadt zum Training antreten. So sind denn auch finanzielle Kompromisse nicht unüblich — entweder, um den Lebensmittelpunkt in Florida, New York oder Kalifornien halten zu können, oder um in einem erfolgreichen Team mitspielen zu können.

Transferstrategien führen zu äußerst komplexen Phänomenen, die Clubs während Jahren behindern können. Weil die schlechtesten Clubs die besten Junioren erhalten, sind sie zudem versucht, bewusst zu verlieren. Dieses so genannten Tanking funktioniert aber kaum, weil Spieler, Coaches und Fans Niederlagen nicht mögen.

Ich war während meinem Austauschjahr 1996 einmal an einem Spiel der Indiana Pacers. An den Ausflug mit einer kirchlichen Organisation erinnere ich mich kaum, ich sass ganz im Stadium und sah kaum, wie sich das Spiel entwickelte, in dem es scheinbar um nichts ging. Lebhafte Erinnerungen habe ich aber an die Zusammenfassung auf EuroSport, mit denen mir anfangs der 90er-Jahre zum ersten Mal Basketball zugänglich wurde — ein Sport, den ich jeden Sonntag leidenschaftlich spielte.

NBA-Basketball ist schön und widersprüchlich wie das Leben. Immer wieder werden Zusammenhänge sichtbar, die unter der Oberfläche gelegen haben. Sie werden durch Geschichten an die Oberfläche gespült, die sich in die Erinnerung eingraben und dabei Verbindungen mit anderen Geschichten eingehen, die sie überlagern. Die NBA ist ein Thema für zahllose Gespräche, die sich immer um dasselbe drehen und doch durch neuen Stoff genährt werden. Und die NBA ist die perfekte Prokrastination: Sie hat mit dem, was ich täglich tun muss, nicht das Geringste zu tun.

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Philippe Wampfler

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