Gegenlesen

Philippe Wampfler
3 min readSep 10, 2018

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Journalistinnen und Journalisten ärgern sich zurecht über folgendes Problem: Sie geben Interviews oder Zitate aus Texten zu Korrektur frei. Die Zitierten (oder ihre Mitarbeitenden) streichen daraufhin Passagen, schreiben andere um oder versuchen, die Stoßrichtung des Beitrags zu ändern.

Ein Standard, der dieses Problem etwas entschärfen sollte, besteht darin, nur die direkten Zitate zur Korrektur vorzulegen und eine einzige Möglichkeit der Rückmeldung vorzugeben: Eine Berichtigung von Missverständnissen oder falsch notierten Namen/Begriffen.

Aus meiner Sicht ist das ein Schritt in die falsche Richtung. Ich schreibe viel, aber zitiere meist schriftliche Quellen. Meine Erfahrung bezieht sich also primär auf eine wissenschaftliche oder wissenschaftsjournalisitische Arbeitsform, bei der ich aber meine Texte während des Entstehungsprozesses immer ganz oder für eingeladene Mitlesende öffne, von denen ich Feedback erhalte.

Wie ich mit dem Feedback umgehe – darin besteht meine Unabhängigkeit und auch meine Verantwortung dem Text gegenüber. Ich bedanke mich für Feedback, sehe mich aber nicht verpflichtet, es im Text unterzubringen, wenn es aus meiner Sicht den Text nicht voranbringt.

Aber mir leuchtet nicht ein, weshalb ich jemandem einen kleinen Auszug aus einem Text zeigen soll, außer wenn das die Person entlastet (sie muss nicht alles lesen). Aber generell gehört der Kontext zu Zitaten dazu: Und der Kontext ist der ganze restliche Text, nicht einfach ein anführender Satzteil.

Dieses Vorgehen würde ich auch für den Journalismus sinnvoll finden: Also Vertrauen zeigen, indem Textentwürfe vor der Schlussredaktion geteilt werden und Feedback erbeten wird. Diese Rückmeldungen erweitern den Horizont der Schreibenden, können Übersehenes einblenden oder unerwartete Perspektiven dokumentieren.

Einige Einwände sind berechtigt, aber sprechen für mich nicht klar gegen dieses Verfahren:

  • Klar funktioniert das bei den ganzen großen Scoops nicht – aber wie groß ist ihr Anteil an den Publikation einer Journalistin, eines Journalisten?
  • Für das Gegenlesen von Zitaten ist heute schon Zeit eingeräumt. Diese Frist muss nicht verlängert werden. Kann das Feedback nicht innerhalb der Frist erfolgen, könnte es in späteren Versionen des Textes eingearbeitet werden.
  • Nicht alle, die für einen Text befragt werden, verstehen journalistische Entscheidungen, mehr noch: Niemand kann anhand eines Entwurfes sehen, wie bestimmte redaktionelle Entscheidungen erfolgt sind. Völlig klar. Auch wissenschaftliches Peer-Review beschränkt sich auf das, was publiziert werden soll. Beim Verarbeiten der Rückmeldungen müssen Journalistinnen und Journalisten Kohärenz herstellen, die Rückmeldungen selbst können dabei durchaus von anderen Sichtweisen oder Entscheidungen ausgehen.

Die Methode, einen fertigen Text als Überraschung vorzulegen, wird sich bald erschöpft haben. Im Netz gibt es keine fertigen Texte mehr, sondern nur noch Versionen von Texten. Wenn heute eine PR-Abteilung nicht eingreifen kann, weil sie nicht genau weiß, was publiziert wird, wird sie morgen intervenieren, sobald die erste Version im Netz steht. Bald werden journalistische Texte nur noch in Ausnahmefällen gedruckt. Der von mir vorgeschlagene Prozess verdichtet und professionalisiert den Umgang mit Rückmeldungen – die ja ohnehin eingehen. Die Verarbeitung von Feedback besteht im Wesentlichen aus zwei Reaktionen:

  1. Die Korrektur oder Ergänzung ist wichtig oder berechtigt und wird berücksichtigt.
  2. Die Rückmeldung ist ein Eingriff in den Text (oder kann aus bestimmten journalistischen Gründen nicht beachtet werden).

Das Verfahren des selektiven Gegenlesens fügt einfach noch die Option hinzu, dass die Rückmeldung nach Drucklegung eingeht und aus technischen Gründen nicht berücksichtigt werden kann. Sie ist aber letztlich nicht nur ein Misstrauensvotum, sondern auch feige – weil die technischen Gründe ja entweder ein Vorwand sind, um 2. nicht direkt äußern zu müssen, oder dann eine sinnlose Beschränkung, die 1. verhindert.

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Written by Philippe Wampfler

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