Dürfen Diskriminierte diskriminieren?

Philippe Wampfler
2 min readNov 1, 2017

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Ja.

Weil diese Frage in vielen Diskussionen immer wieder aufgreift, formuliere ich hier kurz das für mich entscheidende Argument, um später darauf zurückgreifen zu können.

Gehen wir von folgenden zwei Beispielen aus:

  1. Mansplaining: Der Begriff bezeichnet das Verhalten von Männern, die ungefragt Zusammenhänge erklären. Das geschieht oft durch eine Kombination von Überschätzung und mangelnder Wahrnehmung der Betroffenen.
  2. Cultural Appropriation: Das Begriff bezeichnet die Übernahme von kulturellen Praktiken oder Artefakten aus einer diskriminierten Kultur in eine privilegierte. Das kann ein Tanz sein, ein Objekt aus einer Zeremonie, ein Kleidungsstück, eine Frisur etc.

In beiden Beispielen taucht ein Argument sehr häufig auf, das ich im Folgenden widerlegen möchte. Das Argument lautet:

Ihr setzt euch gegen Sexismus, Rassismus und Diskriminierung ein. Dann dürft ihr doch nicht Menschen nach ihrem Geschlecht und ihrer Kultur diskriminieren. Ihr müsst euch doch dafür einsetzen, dass alle dieselben Rechte haben.

An diesem Argument problematisch ist die Verwechslung der realen Situation mit einem idealen Ziel. Eine Welt, in der alle Menschen gleiche Rechte und Chancen haben, in der alle gleichermaßen gehört und respektiert werden — sie ist das Ziel. Damit ist nicht gesagt, dass wir uns heute so verhalten sollen, als ob wir in dieser Welt leben.

Nur: Wir leben in einer Welt, in der wenige privilegiert sind und viele diskriminiert werden. Diese Diskriminierung ist oft sehr versteckt: Die Ursachen, die dafür ausschlaggebend sind, dass weniger Frauen als Entscheidungsträgerinnen gehört und geachtet werden, sind sehr subtil. Dasselbe gilt in kulturellen Fragen: Rassismus ist oft nicht das Resultat von unfairen Gesetzen, sondern von mangelndem Bewusstsein und Respekt im Alltag.

Weil die Situation so ist, braucht es Instrumente, um sie sichtbar zu machen. Begriffe sind ein Instrument dafür. Diskutieren Männer in einem Umfeld, in dem der Begriff Mansplaining vorhanden ist, vermeiden sie dieses übergriffige Verhalten. Macht man Menschen darauf aufmerksam, dass sie sich die Angehörigen einer anderen Kultur verletzen können, wenn sie ungefragt Elemente dieser Kultur in anderen Kontexten einsetzen, achten sie darauf. Dasselbe gilt für Quoten: Kann man sich nicht rausreden, keine geeigneten Frauen/Homosexuelle/PoC etc. für ein Gremium gefunden zu haben, ändert sich etwas.

Damit ist das Argument formuliert: So lange Menschen diskriminiert werden, dürfen sie Begriffe und Methoden verwenden, die diskriminieren. Damit machen sie Prozesse wahrnehmbar, die so selbstverständlich oder subtil sind, dass sie ohne Hilfsmittel nicht zu erkennen sind.

Noch aus der anderen Perspektive: Will man an der unfairen Verteilung von Privilegien was ändern, muss man als privilegierte Person auf bestimmte Rechte verzichten.

(Und bevor man vorschnell einwirft, diese Art der Diskriminierung gäbe es gar nicht, könnte man sich fragen, ob das nicht auf eine Art Strategie sein könnte, um die Diskriminierung zu verstecken und selbstverständlich zu machen: Zu behaupten, es gäbe sie gar nicht.)

OK — Anna Dorfman

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